Weder noch:

Eine literarische Studie des Konformismus in einer dauerhaft autoritären Gesellschaft

Autor/innen

  • Anna Schor-Tschudnowskaja Wien

Abstract

Der Beitrag widmet sich dem Thema Konformismus und Opportunismus in der postsowjetischen Literatur, die sich mit den Erfahrungen aus der Zeit der Sowjetunion auseinandersetzt. Opportunismus und Heuchelei wurden in den letzten Jahren der Sowjetunion auch in der (zunächst weitgehend verbotenen) sozialwissenschaftlichen Theoriebildung von Jurij Levada als eine schlicht unausweichliche Anpassungsstrategie in einem repressiven Regime und damit ein zentrales Merkmal des „homo soveticus“ erklärt. Diesem sich am Ende der Sowjetunion etablierten Erklärungsmuster ist bis heute eine totalisierende Tendenz eigen, wonach es unter den Bedingungen des Sowjetregimes keine Nicht-Konformisten gab. Insbesondere in den persönlichen, autobiographischen Auseinandersetzungen mit der sowjetischen Erfahrung wird das Thema Konformismus zu jenem Interpretationsrahmen, in dem auch die verschiedenen Formen der Dissidenz, – z.B. der Samizdat und die im Untergrund existierte Menschenrechtsarbeit – betrachtet werden.

Um sich dieser im postsowjetischen Selbstverständnis etablierten Verzahnung zwischen Opportunismus und Dissidenz nachzugehen, wird in dem Beitrag der 2010 (auf Deutsch 2012) erschienene Roman von Ljudmila Ulitzkaja Das grüne Zelt näher kritisch betrachtet. In dem in Form von 30 Einzelgeschichten, die immer wieder neue Perspektiven eröffnen, verfassten Roman wird die Geschichte der Dissidentenszene in der späteren Sowjetunion beleuchtet, teilweise in Form von Belletristik, teilweise eher Publizistik, weil etliche Entwicklungslinien im Roman einen dokumentarischen Charakter haben. Neben der mannigfaltigen Verschränkungen zwischen Opportunismus und Dissidenz soll anhand von diesem wohl nicht zufällig eine polyzentrische Form habenden Roman auch noch die literarische Darstellung von Opportunismus jenseits der Haupthelden betrachtet werden: Die moralische bzw. ethische Deutung des sozialen Umfeldes, seine wahrgenommene verführerische Wirkung wie auch sein wahrgenommener Zwangscharakter, seine moralische bzw. ethische Uneindeutigkeit, „Falschheit“ wie „Richtigkeit“ gleichzeitig, wie auch weitere Quellen der Macht, die jenseits der Politik liegen und Menschen zu Konformisten machen. All diese Aspekte stehen bei Ulitzkaja im Zentrum der Betrachtung, wenn es darum geht, bei der literarischen Darstellung von konformistischen und opportunistischen Figuren rückblickend zu entscheiden, wie autonom das jeweilige menschliche Schicksal gestaltet wurde.

 

Keywords

Ljudmila Ulitzkaja; postsowjetische Literatur; Dissidenten in der Sowjetunion; Doppeldenken; Heuchelei; Zeit

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Veröffentlicht

2025-07-11