Recha –Transkulturalität, Geschlecht und Toleranz. Blutsverwandtschaft in Lessings dramatischem Gedicht "Nathan der Weise"

Autor/innen

  • Barbara Dröscher

Schlagworte:

Interkulturalität <Motiv>, Lessing, Gotthold Ephraim, Nathan der Weise, Toleranz <Motiv>

Abstract

Bei der Schlussszene in Nathan der Weise, in der auf Lessings Regieanweisung hin „Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen“ der Vorhang fällt, wird das Toleranzpostulat der Ringparabel als wirksam besiegelt, obwohl die Erwartung an eine konventionelle Auflösung im Liebesglück enttäuscht wird. Die allseitige Umarmung erscheint manchem_r irritierend oder gar befremdend. Es stellt sich leicht ein Unbehagen ein. Doch unterliegt dem so tolerant gelösten Religionsstreit ein ethnographisches Tableau, auf dessen Basis die Differenz durch Transkulturalität bewältigt wird. Lessing klärt die in der Aufklärung aufkommende ethnografische Konstruktion von Differenz auf, indem er die religiöse und kulturelle Grenzziehung durch die Erzählung zweier Vorgeschichten ihrer essentiellen Grundlage beraubt. Zwar enden diese beide tragisch, denn Nathans Familie wird von antisemitischen Kreuzzugshorden ermordet und die Eltern des Geschwisterpaares sterben im Kreuzzug, doch die Kinder der transkulturellen Familiengründung, Recha/Blanda und der Tempelherr, überleben. Recha, die als Pfand der Tugend von Hand zu Hand geht, wird nicht nur aus den Flammen, sondern auch aus dem Zwiespalt der Loyalitäten gerettet. In Recha wird Transkulturalität zur Gestalt. Nicht nur auf ihrem Körper sondern auch in ihrem Geist oszilliert die Kommunikation und wird die Blockade zwischen den Kulturen überwunden. Dabei bleibt sie jedoch als machtlose weibliche Figur das zirkulierende Objekt der Begierde. Der Tempelherr – wie Recha ein Waise – durchläuft einen Bildungsprozess, in dem er seine Position ständig neu finden muss und Fragen der Transkulturalität ausgehandelt werden. Das happy-end, in dem sich Recha und der Tempelherr als Geschwister und verwaiste Kinder einer Deutschritterin und eines Bruders des Sultans in den Armen
Nathans, des Sultans und dessen Schwester wiederfinden, entspricht weder dem romantischem Muster noch der Erwartung eines tragischen Verlusts. Nein, Nathan der Weise ist nicht als Trauerspiel, auch nicht als Lustspiel angelegt. Das dramatische Gedicht in fünf Aufzügen setzt dagegen zwei Erzählungen ins Verhältnis – die über Toleranz und die über Transkulturalität. Während Toleranz als Gebot in der Ringparabel ausgegeben wird, wird Transkulturalität in Lessings multikulturellem Jerusalem des 11. Jahrhunderts, wenn auch unter klaren Machtverhältnissen, gelebt. Glücklich ausgehen kann das Drama nur, weil Lessing so der Transkulturalität durch Blutsbande eine tragfähige Basis schafft.
Meine These ist, dass Lessing einen solchen Schluss schreiben musste, wenn er das in der Ringparabel entwickelte Gebot der Toleranz als reale Chance verwirklicht sehen wollte. Aus postkolonialer Sicht stellt sich für die heutige Rezeption die Frage, wie notwendig das Konzept der Kreolisierung2 für die Entwicklung einer toleranten Gesellschaft ist.

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Veröffentlicht

2015-01-01